AG Geige - Ein Amateurfilm

Dokumentarfilm von Carsten Gebhardt






The Wire - Issue 370 / Dec 2014 (PDF, eng)




DDR-Kultband AG. Geige: Dada-Pop vom Volkskunstkollektiv

Spiegel Online




Katalog 56. Internationales Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm

Eine elektrische Banane, ein Mammut im Garten, ein singender Fliegenpilz und der Synthe-Säuser – oder aber Avantgarde, Kult und Underground sind Begriffe, die für das Gesamtkunstwerk AG Geige aus Karl-Marx-Stadt stehen. 1986 gegründet, wurde die Band schnell zum Geheimtipp in den einschlägigen Klubs der DDR und schaffte es bis zum abrupten Ende 1993, sich nicht vereinnahmen zu lassen. Musik mit elektronischen Elementen, dadaistische Texte, ein monotoner Sprechgesang, kryptische oder bewusst alberne Kostüme und Masken auf der Bühne sowie der Einsatz von Malerei und Film – Multimedia, bevor man den Begriff kannte – prägten den Stil der AG Geige. Die konsequente Verweigerung von Sinn und die Inthronisierung des Absurden waren nicht nur Ausdruck des Lebensgefühls einer Generation, sondern in einem Land, wo noch die banalste Lebensäußerung als politisches Bekenntnis verstanden wurde, eine subversive Strategie.

Der Chemnitzer Carsten Gebhardt setzt ihr ein Denkmal, indem er Bandmitglieder befragt und in Collagen aus Musik und Super-8-Filmen die spezifische AG-Geige-Ästhetik aufleben lässt. Szene-Größen wie Ronald Galenza, Christoph Tannert und Lutz Schramm beschreiben das Konzept eines nur vordergründigen „Dilettantismus“ hinter dem sich „Profitum und gelebte Schrägheit“ verbargen. Insofern ist Gebhardts Werk ein würdiger »Amateurfilm«.

Die subversive Saat ist übrigens aufgegangen: Die Söhne zweier Bandmitglieder gründeten Kraftklub, den Kult von heute. Denn auch die AG Geige wollte nicht nach Berlin.


Grit Lemke




Amateure aus Liebe | 371 - Stadtmagazin Chemnitz

AG Geige war, zumindest bis zum Erscheinen von Kraftklub, der bedeutendste musikalische Exportartikel dieser Stadt. Der Chemnitzer Regisseur Carsten Gebhardt hat nun einen Dokumentarfilm über das legendäre Künstlerkollektiv gedreht.

Der Duden schreibt über das Wort Amateur: „Jemand der eine Tätigkeit aus Leidenschaft als Hobby betreibt.“ Frank Bretschneider, auch Palucca genannt und bei der AG. Geige zuständig für Gesang, Gitarre und Keyboards formuliert es als eine Person, die etwas aus Liebe mache und nicht jemand „der nichts auf die Reihe bekommt.“ Neben Bretschneider bildeten außerdem Jan und Ina Kummer und Torsten Eckhardt, den später Olaf Bender ersetzte, die selbsternannten Amateure.

Als Autodidakten gründen sie 1986 die AG. Geige. Ein avantgardistischer Elektrosound, skurrile Texte und schräge Bühnenkostüme werden ihre Markenzeichen. Trotz des experimentellen Konzepts erreicht die Band bis zu ihrer Trennung 1992 eine erstaunliche Popularität, zunächst im Osten, mit dem Fall der Mauer aber auch im Westen. Konzerte glichen dabei eher Performances. Jan Kummer erklärt das im Film wie folgt: „Wir haben uns ja nie so direkt als Musiker begriffen. Es ging immer nur darum, dieses Projekt, dieses Gesamtensemble den Leuten zeigen zu können. Und dazu gehörte Film, Malerei, Texte und Musik.“ Auch 26 Jahre nach der Gründung ist immer noch eine große Faszination für das Ensemble zu spüren. „Vor zwei, drei Jahren wurde ich in Berlin gefragt, was ich gerade so mache“ erzählt Carsten Gebhardt. „Da habe ich überlegt, wie ich denen AG. Geige erklären soll. Aber die Generation, die damals um die 14-16 Jahre alt war, kannten alle AG. Geige. Und alle haben geschmunzelt.“

Carsten Gebhardt hat vier Jahre an diesem Film gearbeitet. Ursprünglich war er als Teil einer großen Box geplant, in dem bekanntes und bisher unveröffentlichtes Bandmaterial inklusive des mittlerweile vergriffenen Buches „Von Fröschen und Träumen“ neu herausgegeben werden sollte. Das ambitionierte Projekt, von den Machern der mittlerweile eingestellten Chemnitzer Literaturmagazins Comma auf den Weg gebracht, scheiterte aber an finanziellen Grenzen. Übrig geblieben ist Gebhardts Film. Mit unveröffentlichtem Livematerial, Interviews der agierenden Künstler, Radiomachern, Veranstaltern und Kuratoren, transportiert er die Geschichte der Band in die Gegenwart. Gebhardts Film dokumentiert ohne den berühmten Nostalgie-Schleier und sehr vielschichtig die Arbeit der Künstler in der DDR. Mit allen Widrigkeiten, schönen oder absurden Situationen und schließlich die Trennung der Band. Gerade Zuschauern ohne viel Hintergrundwissen über das Quartett sei der Film ans Herz gelegt. Auch wenn nicht die letzte Frage aus dem Weg geräumt ist, hat man trotzdem das Gefühl dieses Phänomen und den Antrieb dahinter besser zu verstehen.

Florian Harlass




Es ist sehr finster im Fisch, aber es ist noch jemand drin …
Die Unwahrscheinlichkeit der AG Geige


Alex meint, ich solle anlässlich von Carsten Gebhardts Doku »AG Geige – Ein Amateurfilm« etwas über die AG Geige schreiben. Schwierig, denn auch wenn sie ein wichtiger Bestandteil meiner musikalischen Sozialisation war, nähere ich mich ihr dennoch von sehr weit draußen, aus jenem Westen nämlich, in dem ich aufgewachsen bin. Und das führt mitten in jenen Teufelskreis hinein, der die Rezeption des DDR-Untergrunds nach wie vor bestimmt. Über Lee Scratch Perry oder Underground Resistance zu schreiben – kein Problem. Solange ich mich hinsichtlich der wesentlichen Koordinaten nicht allzu ignorant zeige, wird niemand nach meinem Berechtigungsschein fragen. Die Zeiten der alles zermalmenden Authentizitätskeule sind zum Glück lange vorbei. Die Beschäftigung mit dem Untergrund Ost ist dagegen bis heute in der Regel Sache derjenigen, die in irgendeinem bio- oder wenigstens geographischen Verhältnis dazu stehen: It’s a DDR thing that you wouldn’t understand. Das hält ihn aber auch klein. Und es erscheint der AG Geige nicht angemessen, die – in einem gewissen Sinne – eigentlich nie wirklich eine DDR-Band gewesen ist …

That good ol’ BRD-boy-meets-DDR-Underground-story again
Obwohl ich vor der Grenzöffnung gut 18 Jahre lang zonenrandnah gelebt hatte, wusste ich natürlich genauso wenig Bescheid über das, was sich knapp 60 Kilometer weiter (und dahinter) abspielte, wie jemand in Saarbrücken oder Stuttgart. Von der Existenz eines realsozialistischen Untergrunds hatte ich gehört, und DDR-Punks konnte ich mir sogar vorstellen. Die Bilder, die die Westillustrierten alle paar Jahre zeigten, unterschieden sich nicht wesentlich von dem, was hierzulande an jedem besseren Dorfbrunnen passierte. Den bei Aggressive Rockproduktionen – einem Westberliner Punklabel – 1983 auf der Basis geschmuggelter Aufnahmen veröffentlichten Sampler »DDR von Unten/eNDe« kannte ich nur vom Hörensagen. Aber ich stellte ihn mir ungefähr so vor, wie sich die Schleim-Keim-Seite später dann tatsächlich anhörte.
Namen wie Pankow oder Keks waren hier und da mal gefallen. Genaueres wusste ich nicht, nur dass es keine typischen Amigabands sein sollten. Typische Amigabands kannte ich. Ihre vollkommene ästhetische Leere faszinierte mich, vor allem, dass sie auch genauso leer hießen: Karat z.B. oder – und das war wirklich beeindruckend leer – Prinzip. Westbands waren dagegen ja immer irgendwie gefüllt, sogar Abschaum wie Uriah Heep oder Fields of the Nephilim. Für unsere nie erschienene Zeitschrift planten wir also einen Szenebericht über ostdeutsche Bands, die wir uns ausgedacht hatten: Sie hießen Format, Fazit oder Struktur (mit denen ich sogar ein Interview geführt hatte). Ich glaube wir hatten drei Seiten mit zwei bis dreisilbigen Wörtern gefüllt, die sich für uns wie DDR-Bandnamen anhörten und die wir jetzt nur noch auf der Landkarte der DDR zu verteilen brauchten. Das muss so um 1986 gewesen sein.
Ein Freund hatte damals eine DDR-Cousine, die ihm immer Briefe schreiben musste. Einmal schrieb sie, dass sie sich die neue Modern Talking wünschte. Ich besorgte sie ihr und verlangte im Gegenzug Pankow oder Keks. Die LP, die sie mir daraufhin schickte, trug den unappetitlichen Titel »Kille Kille« und war natürlich nicht gut, möglicherweise aber wichtig, ebenso wie die L’Attentat-Platte, die wir uns alle überspielten, obwohl wir sie dann nie auflegten. All das bewegte sich in normalen Parametern: fader Deutschrock hier, klobiger Proberaumpunk da; L’Attentat klangen wie die Boskops mit Stasiakte.
Als mir – im Frühjahr 1989 – die popästhetischen Ost-West-Koordinaten zum ersten Mal wirklich wegbrachen, hatte ich gerade Nachtschicht im Altersheim. Mir war langweilig und ich stellte das Radio an. Dort lief ein Stück, bei dem jemand einen neuen Text über einen bekannten Bruce-Springsteen-Hit sang, der erklärte, wie das kulturindustrielle Phänomen »The Boss« funktionierte. Der Springsteenhit lief dabei im Hintergrund unbeirrt weiter. Das war kein blöder Gag, sondern irgendwie mitreißend und angenehm verstörend. Die Ästhetik der Destruktion und die Ästhetik von Springsteen ergaben in ihrer Überblendung einen (vermutlich ungewollten) Mehrwert, eine dialektische Verschränkung, die ich so noch nicht kannte. Das nächste Stück war nach derselben Methode konstruiert (auf der Grundlage von »Ebony and ivory«), das übernächste auch, und so weiter. Schließlich erklärte ein Moderator, dass wir soeben »Tacky Souvenirs of Pre-Revolutionary America« von Culturcide gehört hätten und dass es nun weiterginge mit Liveaufnahmen der TV Personalities (von denen ich bereits Fan war), gleich nach den Nachrichten, den »Nachrichten der DDR« …
Diese Information war noch viel verstörender als Culturcide. Und die waren ja schon so weit draußen, dass sie vermutlich nicht mal im »Zündfunk« (den ich damals regelmäßig hörte) hätten gespielt werden können. Oder auf sonst einem Sender, den ich mir vorstellen konnte. Ganz offensichtlich hatte ich ein falsches Bild der DDR-Verhältnisse: Wenn die Monotonie dieses Anti-JeJeJes problemlos im Staatsfunk laufen konnte, waren wohl noch ganz andere Dinge möglich.
Und trotzdem war ich damit noch längst nicht auf AG Geige vorbereitet, die ein Jahr später auf einem Festival direkt in meinem Dorf spielten: die »Zapfendorfer Independenttage«. Ich ging hin, weil ich nichts Besseres zu tun hatte und umsonst rein kam (mein Cousin saß an der Kasse), vor allem aber wegen der Vorband, eine von drei oder vier lokalen Indiegruppen. Die anderen Bands kannte ich nicht, weder AG Geige (der Name ließ schlimmstes Musikkabarett befürchten), noch Half Japanese.
Die lokale Indieband war so okay wie immer, aber AG Geige überrollte mich förmlich, vor allem wegen der Texte: »Das Essen ist aus den Töpfen gestiegen und dringt nun in die öffentlichen Gebäude ein« etc. Jemand flüsterte mir zu, dass sie »von drüben« wären. Mit Half Japanese kam das nächste Erweckungserlebnis gleich hinterher, aber AG Geige waren ein Widerspruch in sich: Die Musik (bzw. die Performancekunst), die sie spielten, war für mich neu, obwohl ich vage Vergleichbares, etwa Der Plan, Holger Hiller oder Zürich-Dada, bereits kannte. Aber sie hatte diesen schwer fassbaren Gestus distanzloser Distanziertheit, diese gebrochene Direktheit und Unmittelbarkeit, wie sie West-Bands, die mit ähnlichen Mitteln arbeiteten, nicht hinbekamen (und vielleicht auch nicht hinbekommen wollten). Die Verschrägung schien sich in keine der mir bekannten kulturellen Nischen zurückzuziehen. Sie sprang mir direkt ins Gesicht. Außerdem kam sie aus einem Land, von dem ich allenfalls Schleim-Keim und gerade noch die Skeptiker erwartetet hätte – vielleicht auch verhärmte, weil ordnungsgemäß unterdrückte Avantgarde, aber keine derart freischwebende Abgedrehtheit, die weit über den Dingen und doch zugleich mitten im Alltag stand. Dieser Alltag schien aber nicht der der DDR zu sein, jedenfalls hatte er nichts mit dem zu tun, was uns westliche Propaganda stets nur in den allerdüstersten Farben ausgemalt hatte.
Irgendwie kamen sie nicht »von drüben«, sondern von draußen, von sehr weit draußen, aus einer Dimension, die weder auf spezifisch realsozialistische Weise (anti-)sozialistisch noch auf ausgesprochen bürgerliche Weise antibürgerlich war (wie die meiste westliche Gegenkultur). Sie hatte als Musik keinen Ort, zumindest keinen, von dem sie sich abstoßen musste. Denn nichts von dem, was die AG Geige auf die Bühne brachte, wirkte unfrei oder frustriert, eingesperrt oder wie eine Mangelerscheinung. Ihr fröhlicher Reichtum war eher das Zeichen einer besonderen Fülle, und der Ort, von dem das stammte, schien ein klassischer Poport zu sein, einer von dem sich mit etwas Phantasie sogar träumen ließ, vielleicht nicht so wie vom San Fransisco der Sechziger, aber doch so wie von jenem San Fransisco, von dem mir »Subterranean Modern«, ein Sampler mit den Gruppen des Ralph Records-Labels, erzählt hatte.
Das war alles sehr verwirrend. Dass es die AG Geige nicht erst seit dem 9.11.1989 gab, war klar, denn was sie machte, wirkte ausgereift. Ich war genauso erschüttert wie die anderen Kleinstadthipster_innen, bei denen ich stand. Wir alle hatten jede Menge Fragen. Und weil ein paar von uns Jahre vorher eine Zeit lang ein Fanzine gemacht hatten, das über die örtliche Gymnasialpunk- und -metalszene berichtete, platzten wir in seinem Namen in die Garderobe, wo sich die AG Geige gerade umzog. Unsere Fragen tarnten wir als Interview. Dass wir weder ein Aufnahmegerät dabei hatten, noch etwas zu schreiben, war niemandem aufgefallen. Warum sie nicht verboten worden wären, wollte ich wissen. Jemand (vermutlich Jan Kummer) erklärte es mir: »Wenn wir gesagt hätten, wir spielen für Arbeiterjugendliche, hätten wir Probleme gekriegt. Aber weil wir gesagt haben, wir spielen für Studenten, ging das irgendwie«. Und wie habt ihre eure Texte durch die Zensur bekommen? (Dass Essen, das aus den Töpfen steigt, um in die öffentlichen Gebäude einzudringen, noch durch eine marxistisch-leninistische Geschichtsauffassung gedeckt war, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen). »Es wurde schon versucht, aus bestimmten Textstellen eine antisozialistische Haltung herauszulesen, aber wir konnten dann anhand anderer Stellen stets das Gegenteil beweisen« (alle Zitate sind aus dem Gedächtnis rekonstruiert).
Die Auseinandersetzung mit den staatlichen Kulturbehörden als Überbietungswettbewerb in Sachen Absurdität? Das stellte ich mir lustig vor, irgendwie so: Falls Aussagen wie »Ein Kaufhaus möchte ich sein« beanstandetet wurden, konnte die Geschichte von der Familie dagegengehalten werden, die »hinter den Rosenrabatten« ein gefrorenes Mammut entdeckt – später findet sie noch eine viertausend Jahre alte Mumie auf dem Dachboden. Beide erweisen sich als »unentbehrliche Hilfe im Haushalt« (das Mammut kann »zwölfstellige Zahlen durch sich selbst teilen und Brüche bilden aus allen Zahlen«, die Mumie »beherrscht zwölf außereuropäische Fremdsprachen«). Für die acht Oscars, die die Kinder im ausgetrockneten Flussbett hinterm Haus ausbuddeln, hat sie hingegen »keine Verwendung«. Eine glasklare Absage an die imperialistische Kultur, oder nicht?
Das passte natürlich überhaupt nicht zum Bild vom bedauernswerten DDR-Underground, der immer mit einem Bein im Knast stand. Einen kurzen Moment lang war ich richtiggehend neidisch auf die besonderen kreativen Herausforderungen der DDR.
Die LP, die demnächst bei Amiga (!) erscheinen sollte, bestellte ich sofort vor. Ich musste lange warten, aber als sie endlich kam, war das wie Weihnachten. Ungefähr so musste es sich angefühlt haben, wenn die Westoma endlich die Sonic Youth-Platte schickte. »Trickbeat« enttäuschte nicht, alles war darauf so eigenartig verschoben, wie ich es schon beim Konzert gehört hatte, die Texte ebenso wie die Musik. Sie lief immer wieder, bis ich sie über weite Strecken auswendig kannte. Leute, denen ich sie begeistert vorspielte, mussten raten, wo das herkam. Auf Karl-Marx-Stadt kam natürlich niemand, schon weil Karl-Marx-Stadt popkulturell ja gar nicht existierte.
AG GEIGE saßen für mich gleich zur Rechten von Foyer des Arts und der Residents. Ich hörte sie gar nicht als DDR-Band, auch nicht als (gegen-)kulturellen Ausdruck des Ostens. Wie jede gute Popgruppe sang sie – egal ob vom kalifornischen Strand, von Karl-Marx-Städter Kaufhäusern mit zwanzig gefräßigen Rolltreppen oder vom dicken Kind im Tropfstein, das ein Riesenhilfsmotor am Erblinden hinderte – vor allem von mir.
Einige der Leute, mit denen ich rum hing, ließen sich anstecken. Einer von ihnen las mir eines Tages einen literarischen Text vor, der davon handelte, wie er mit einer AG Geige-Platte in der Hand (nämlich meiner, die er sich gerade erst für die nächsten zweieinhalb Jahre ausgeborgt hatte) an der Wurstbude stand. Den Rest habe ich vergessen; ich weiß nur noch, dass es um eine Art Lebensgefühl ging, das sich an der Schnittstelle von AG Geige-Plattentüte und Wurstbude einstellte. Derselbe Freund spielte mir eines Tages einen Song vor, den er mit meinem alten Synthesizer aufgenommen hatte (er hatte ihn sich auf unbestimmte Zeit entliehen), einen AG Geige-Song, wie er hinzufügte. Im Jan-Kummer-Tonfall, den er irgendwie imitieren konnte, deklamierte er etwas, was durchaus als AG Geige-Text durchgehen konnte: »Gehe langsam in die Küche und entferne den Strunk, sagte Adamo/Geh’ in den Keller und esse den großen roten Fisch, sagte Adamo/Den ganz großen roten Fisch/Ich aber sage, gehe in den Fisch und schreib’ ein Buch, Adamo/Ein ganz dickes Buch/Es ist sehr finster im Fisch/Aber es ist noch jemand drin/Es sind Max Ernst und Rose Ausländer …«, und so weiter. Ich fand das tatsächlich AG Geige-würdig, worüber er sich riesig freute.

Ein blitzender Pfeil am Himmel: Ostdeutsche Popmusik
In den folgenden Jahren habe ich mir den DDR-Underground sukzessive erschlossen. Ich besorgte mir die Platten der »anderen Bands« und ließ mir etliche Tapes überspielen. Das meiste fand ich super, auch weil es in dieser Musik etwas gab, was selbst noch die Bands interessant aufraute, die eigentlich ja nur Punk spielen wollten; etwas, das mehr war als bloß jene Form, in der sich die besonders widrigen Produktionsumstände einschrieben, obwohl es natürlich mit DDR zu tun hatte, auf die es in einer Weise reagierte, die so vermutlich nur unter DDR-Bedingungen zu haben war. Jedenfalls unterschied sich DDR-Punk signifikant von den sterbenslangweiligen westdeutschen Bands des Genres, die zu diesem Zeitpunkt längst wussten, wo sie sich jene amtliche Metal-Produktion aufdrücken lassen konnten, die ihre Musik so fad machte.
Um 1992 hatte ich einen Überblick, aber die Bands, die noch spielten, enttäuschten immer mehr: die zweite Skeptikerplatte war irgendwie uninspiriert (eben BRD-Punk); Sandow schienen sich auf »Känguru« in eine ähnliche Richtung zu entwickeln wie die Neubauten mit »Haus der Lüge«; Feeling B wurden Rammstein und Schleim-Keim die neuen Slime. Alles war auf einen Schlag sehr uninteressant geworden, vor allem Herbst in Peking. AG Geige hingegen lösten sich einfach auf – genau im richtigen Moment. »Raabe?« war immer noch eine tolle Platte, die eines Tages als CD in meinem Briefkasten lag (vermutlich hatten sie mich als Fanzineadresse gespeichert), und um sie zu hören, kaufte ich mir sogar meinen ersten CD-Player, aber an »Trickbeat« kam sie nicht heran (ebenso wenig wie die heute in Form von MP3s zirkulierende dritte LP, die noch mal eine andere Seite der AG Geige zum Vorschein bringt). Das war nur konsequent, die Sex Pistols hatten schließlich auch nur ein »Never mind the Bollocks« aufgenommen, und Culturcide nur ein »Tacky Souvenirs of Pre-Revolutionary America« (der Rest von ihnen war vergleichsweise biederer Krach). Irgendwann tauchten Frank Bretschneider und Olaf Bender dann als avancierte Elektroniker der späten 1990er wieder auf, aber das wäre bereits eine andere Geschichte.
Die AG Geige unterschied sich in einem wesentlichen Punkt von allen anderen Bands des DDR-Undergrounds: Bei ihnen allen konnte ich mir stets vorstellen – selbst in den kühnsten Momenten (wie sie z.B. auf den CD-Beilagen zu »Spannung. Leistung. Widerstand« zu hören sind) –, dass sich kreative Dissidenz »von drüben« ungefähr so anhörte und dass sie sich genau dieser Mittel, Wege und Kanäle bediente. Auch dass sie sich in leicht übersteuerter Weise auf die offizielle DDR-Sprachmaschine bezog und dadurch zu Gruppennamen wie Demokratischer Konsum oder Expander des Fortschritts kam. Dass avantgardistische Konzepte in der DDR eine Art innere Republikflucht waren, und Unverständlichkeit eine Grauzone. Privatistische Sprachexperimente, wie bei den beliebten Crossover-Projekten zwischen Dichtung und Musik, schleuderten der staatlichen Äußerungskontrolle einen merkwürdigen Brei vor die Füße, der deren Kategorien gezielt überforderte. All das leuchtete mir ein. Dass sich der Untergrund Ost dergestalt austobte, war durchaus vorstellbar und wenigstens nicht gänzlich unwahrscheinlich.
Aus der Musik der AG Geige (bzw. den interdisziplinären Versuchsanordnungen, in denen sie als Verlängerung von bildender Kunst gespielt wurde) sprach aber etwas anderes als bloß Verweigerung durch kreativen Eigensinn, etwas, das wohl am besten in der noch weitgehend ungebräuchlichen ästhetischen Kategorie der »Unwahrscheinlichkeit« beschrieben wäre. Denn weder ließ sie sich aus den vorhandenen Kontextinformationen noch aus der üblichen Praxis des zugehörigen Feldes problemlos erklären. Der Horizont und die besondere Kühnheit der AG Geige waren nämlich auch unter ganz anderen Rahmenbedingungen nicht ohne weiteres zu haben.
Unwahrscheinlich war nicht nur die Musik selbst, die den verfügbaren technischen Mitteln neuartige rhythmische Winkelzüge abtrotzte (die ich so bzw. so ähnlich erst wieder auf einer späten Art Zoyd-Platte zu hören bekam). Unwahrscheinlich war vor allem, dass sich die AG Geige nicht zur DDR zu verhalten schien. Zumindest für mich gab es keinen erkennbaren Diskurs mit dem Regime und seinen ästhetischen Ordnungsvorstellungen. Dass es der AG Geige den etwas ratlosen Stempel »Volkskunstkollektiv der ausgezeichneten Qualität« aufdrückte, der dann auch im Rahmen ihrer Selbstdarstellung ostentativ benutzt wurde, war natürlich Bestandteil einer ironischen Grundierung der Band und ihrer Situation. Aber diese Ironie war kein Mittel, um die Diskrepanzen der DDR-Kultur vorzuführen oder genüsslich auszureizen; eher eine allgemeine, eine ortsunspezifische Haltung zur Welt.
Wo DDR-Typisches im Werk der AG Geige auftauchte, war das eher – zumindest für meine interessierte Außenperspektive – ein Collageelement unter vielen, das um einer kindlichen Freude am Vermischen willen verbaut wurde, z.B. von internationaler Synthieavantgarde und kleinbürgerlichem Alltag (dessen Rosenrabatten oder Waldschleiereulen eher ein gesamtdeutsches Phänomen zu sein schienen). Ostdeutsche Befindlichkeiten spielten dabei allenfalls eine untergeordnete Rolle. Anders als in den meisten mir bekannten Zeugnissen des DDR-Untergrunds schwang jedenfalls keinerlei Bitterkeit mit. Die Mitglieder der AG Geige hätten »nie rumgejammert«, sagt Roland Galenza in »AG Geige – Ein Amateurfilm« – und die Beteiligten selbst betonen im Film immer wieder, dass das alles doch nie regimekritisch gemeint gewesen wäre; ein interessanter Widerspruch, denn in einer gewissen Weise, war die ästhetische Freiheit, die sie sich völlig unverbittert herausnahmen, ein herber Schlag ins Gesicht realsozialistischer Kulturpolitik. Und der Humor eine Waffe gegen jene deutsche Hölle, die die DDR vermutlich war. Obwohl er sich darüber aber gar nicht lustig machte, sondern tatsächlich lustig war: an und für sich, ein großer Spaß und eine Form von Freiheit und Autonomie, die weder ein geheimer Code noch ein Kassiber für Dinge zu sein schienen, die anders nicht gesagt werden konnten. In einer gewissen Weise hatte er die DDR, mit der er sich freilich pro forma noch immer rumschlagen musste, schon lange vor 1989 verlassen, und mit ihr jenen faktischen Ernst, der zwischen den Zeilen selbst der lustigsten und abenteuerlichsten Projekte des DDR-Untergrunds immer durchklingt, die sich, wie Frank Bretschneider später in einer »Zündfunk«-Sendung sagen sollte, stets »sehr wichtig und sehr ernst genommen« hätten.
Die AG Geige war keine künstlerische Verarbeitung jener Absurdität, die ein wesentlicher Bestandteil des DDR-Alltags und insbesondere von DDR-Popsozialisation war, und auch keine Strategie, um DDR-spezifische Frustrationen und realsozialistischen Affektstau zu entsorgen. Stattdessen zelebrierte sie eine konstruktivistische Fröhlichkeit und simulierte Fülle, Entschlossenheit und eine optimistisch vorgetragene Idee des Aufbruchs, in die sie sich auf angenehm beknackte Weise hineinsteigern konnte: »Ich möchte ein Flugzeug sein/Mit Transformatoren und einer riesigen Atomuhr/Ein blitzender Pfeil am Himmel/Aerodynamisch/Mit scharfen Propellern und schwarzem Auspuff/Außerdem stahlgetrieben« (»Triebwerk«). An anderer Stelle heißt es programmatisch: »Flieg schneller Silberraumschiff/Noch schneller als das Licht/Wir hinterlassen Welten/Die uns’ren sind es nicht« (»Kosmonauten«). Von heute aus betrachtet ist das alles durchaus näher bei Sun Ra als bei Die Art, Paranoia oder Keks.
Allerdings verlieh Jan Kummers Vortrag solchen Zeilen immer auch eine gewisse Schärfe, die sie von streckenweise ähnlichen Texten z.B. von Max Goldt unterschied. In sie hat sich möglicherweise doch der Entstehungshintergrund eingraviert, obwohl sie sich in Zeugnissen des englischen Post-Punk bisweilen ähnlich findet, z.B. bei den fast vergessenen Dry Rib, die (im Rahmen einer CD-Retrospketive) von sich behaupten: »We played songs which didn’t make sense but which were delivered as though they did and that they were important«. Als Klappentext ließe sich das auch auf die AG Geige schreiben.
Dass sie eine kurze Zeit lang sogar Popstars der DDR waren (»Das Möbiusband/Zeychen und Wunder« tauchte zwischenzeitlich in der Hitparade auf) hat vielleicht auch damit zu tun, dass sie in der Lage waren, zu leisten, was gelungene Popmusik ausmacht: Behauptungen aufzustellen über die Welt (anstatt sich von ihr bloß ausgeschlossen zu fühlen). Die Stücke der AG Geige handeln ganz selbstverständlich von einer (wie auch immer aus den Fugen geratenen) Welt, und nicht bloß von jener Welt der DDR, der Welthaltigkeit verwehrt ist. Die ist allenfalls ein ärgerliches Hindernis, aber nichts woran der Anspruch auf Welt verzweifelt oder zerbricht. Damit gelingt ihnen, wovon die leeren und verwaschenen Metaphern und hohlen Progrockphrasen des alten Ostrocks bloß träumen konnten: die Transzendenz des Eingesperrtseins.
In einer älteren Zonic-Ausgabe zeigt sich Frank Bretschneider erstaunt über den Popstarstatus der AG Geige, den er mit einer Sitzbank im Bus belegt, in die jemand ihren Namen gekratzt hatte – direkt neben »Depeche Mode«. Das hätte in keiner Weise ihrem Selbstverständnis entsprochen. Aber es benennt doch ihre besondere Qualität: Trotz aller Kunst, um die es vordergründig gehen sollte, brachte die AG Geige eine internationalistische Idee von Pop zur Darstellung; eine, für die Popkultur in beiden Deutschlands lange Zeit leidenschaftlich gehasst wurde: als Möglichkeit, Heimat und Identität zu verlassen, lästige Wurzeln zu kappen, selbst dort, wo gewissermaßen kultureller Haus- bzw. Heimatarrest verordnet war.
Wie jede große Popgruppe hat die AG Geige eine Sprache gefunden, die nicht mehr Ausdruck eines bestimmten kulturellen (oder gegenkulturellen) Terrains ist – jedenfalls nicht ausschließlich und schon gar nicht restlos.
Zu den Paradoxien der Popkultur gehört, dass Ortlosigkeit bzw. Orts- und Identitätstranszendenz bevorzugt an bestimmten Orten entsteht, also selbst wiederum site-specific ist. Wie wichtig im Falle der AG Geige Karl-Marx-Stadt war, habe ich erst aus »AG Geige – Ein Amateurfilm« erfahren. Die besonderen und nachgerade biotopischen Bedingungen, die dort herrschten, stimulierten Experimente und Grenzüberschreitungen. Als Künstler_innenkolonie war Karl-Marx-Stadt eine Enklave, die (in unmittelbarer Nachbarschaft zur bildenden Kunst) besonders merkwürdige Bands bzw. Bandbehauptungen wie Tropenkoller, Kriminelle Tanzkapelle, Gehirne, die Knut Baltz Formation, Heinz & Franz (Frank Bretschneider und Heinz Havemeister), A.F. Möbius (Bretschneider solo) oder die Atominoes (AG Geige als Coverband) hervorbrachte.
Dennoch erklären solche Bedingungen nur, warum die Musik der AG Geige hier und nicht etwa in der Szene um den Prenzlauer Berg entstanden ist, nicht aber wieso und auf welchem Wege aus ihren multimedialen Experimenten, die ja eigentlich nur die Grenzen der Kunst hatten erweitern wollen, Popmusik wurde, die sich über alle politischen Grenzen hinwegsetzte, bis sie schließlich auch die kleinlaute Vorsilbe »DDR-« abgeschüttelt hatte, die ihr heute aus identitätspolitischen Gründen manchmal noch immer umgehängt wird.

Frank Apunkt Schneider | ZONIC - Kulturelle Randstandsblicke und Involvierungsmomente
voraussichtlich Juni 2013